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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Samstag, 23. August 2008

Der mittlere Weg und der Wille zur Wahrheit (Teil 1)
Aus dem Buch: Begegnung mit dem wahren Drachen, erscheint demnächst

Ich mache mir manchmal über die Menschen Gedanken, die aus dem Westen nach Japan kommen, um hier Buddhismus zu studieren. Ich denke, viele von ihnen suchen auch das Wesen und das Herz des geheimnisvollen Asiens. Vielleicht ist ihr Alltag im Westen langweilig und uninteressant geworden. Sie können den Sinn ihres sozialen Lebens nicht finden und die religiösen Einrichtungen ihrer Herkunftsländer scheinen wesentlicher Teil dieser negativen sozialen Situation zu sein. Die Institutionen dort sind den Menschen vielleicht zu vertraut und erscheinen ihnen zu gewöhnlich, zu langweilig und bieten zu wenig Neues. Daher suchen sie nach etwas anderem.

Der Zen-Buddhismus ist für sie so etwas Anderes und Exotisches. Er hat seltsame und paradoxe Geschichten, ungewohnte Ideen und Konzepte und eine fremdartige Übungspraxis. Alles erscheint geheimnisvoll und exotisch. Solche Geheimnisse ziehen manche Menschen gewaltig an, aber ich fürchte, es handelt sich dabei doch weitgehend um Illusionen. Es geht mir in meinen Ausführungen auch darum, solche Illusionen und fehlerhaften Konzepte zu berichtigen.
Der wahre Buddhismus ist nicht exotisch und nicht seltsam.

Der wahre Buddhismus ist im Grunde sehr einfach, sehr praktisch und sehr realistisch. Wenn wir den Buddha-Dharma wirklich verstehen, finden wir, dass andere Religionen dieser Welt demgegenüber zum Teil recht seltsam und geheimnisvoll sind. Sie sind auch mysteriös, weil sie oft auf einen ganz bestimmten Bereich des Geistes oder der Seele beschränkt sind, denn im Bereich des Geistes und der Fantasie ist wirklich alles möglich. Aber die reale Welt hat ihre konkreten und praktischen Grenzen wie Zeit und Raum. Die wirkliche Welt ist nicht fantastisch und fremdartig, sondern gradlinig und einfach: Die Wirklichkeit ist "normal".

Die Wirklichkeit kann in diesem Sinne nicht in den Extremen des Denkens und Fühlens gefunden werden, denn sie ist nur im Zustand des Gleichgewichts zwischen solchen Extremen vorhanden. Die Wirklichkeit herrscht in der Mitte oder im Zentrum, daher sprechen wir im Buddhismus auch vom mittleren Weg und davon, dass wir durch den Buddha Dharma unsere Mitte finden.

Der mittlere Weg ist ein sehr wichtiges Konzept im Buddhismus und wie die meisten buddhistischen Lehren, kann er auf verschiedenen Ebenen und aus vielen Sichtweisen heraus verstanden werden. Die meisten Buddhisten verstehen den mittleren Weg als Leitlinie, um ihr Leben richtig zu führen – ein Leben, das in der Mitte zwischen den Extremen eines allzu genusssüchtigen, weltlichen Lebens einerseits und einer übermäßig harten und entbehrungsreichen spirituellen Askese andererseits liegt. Ich glaube, dass dieses Verständnis sehr wichtig ist und ich bin der festen Meinung, dass es das ursprüngliche Konzept von Gautama Buddha im damaligen Indien ist.

Zu Lebzeiten des Buddha gab es viele verschiedene Ansichten, Haltungen, Denkrichtungen und Ideologien über das Leben. Eine Denkrichtung wurde von einer Gruppe naturalistischer Theoretiker angeführt, die auch als die sechs nicht-buddhistischen Priester bekannt waren. Ihre materialistische Einstellung unterstützte das Streben nach sinnlichen Freuden als dem wichtigsten Ziel des Lebens.

Das andere Extrem bildeten brahmanische Priester und andere idealistische Sucher. Sie drängten die Menschen dazu, von sinnlichen Freuden und Genüssen ganz Abstand zu nehmen und die Freiheit des Geistes durch Glauben und Gebet unabhängig vom Körper zu erreichen. Wir können daher im philosophischen Sinne den mittleren Weg als eine Haltung bezeichnen, die in der Mitte zwischen Materialismus und Idealismus liegt. Es ist eine Haltung, die extreme Standpunkte vermeidet und das Ziel eines gemäßigten, ausgeglichenen und harmonischen Lebens verfolgt.

Der mittlere Weg ist eigentlich eine einfache und gradlinige Idee. Wenn wir die Welt und die Menschen um uns herum studieren, können wir ohne Schwierigkeiten das Durcheinander und das Leiden erkennen, die durch eine Lebensführung der sinnlichen Genüsse oder der unrealistischen Ideale entstehen. Wir haben oft das Gefühl, dass unser Leben aus dem Gleichgewicht geraten ist, wenn wir unerreichbare Träume verfolgen oder flüchtigen sinnlichen Genüssen nachjagen und dabei letztlich nur Enttäuschungen und Frustrationen erleben.

Es ist unmöglich, dass wir alles bekommen, was wir haben wollen. Oft können wir nicht einmal erkennen oder entscheiden, was wir wirklich wollen. Manchmal sind wir in Hochstimmung und optimistisch, zu anderen Zeiten sind wir niedergeschlagen, depressiv und mutlos, was unsere Zukunft betrifft. Einmal denken wir, dass wir großartige außergewöhnliche Menschen sind und ein anderes Mal leiden wir unter Gefühlen der eigenen Kleinheit und fehlenden Bedeutung. Im Auf und Ab eines solchen Lebens fangen wir an, uns nach einer gewissen Ordnung und Klarheit zu sehnen. Vielleicht sollten wir versuchen, Harmonie in unser Leben zu bringen. Vielleicht sollten wir also dem mittleren Weg folgen. Dies ist sicher eine ausgezeichnete Idee, aber leider ist sie nicht so leicht zu verwirklichen.

Dem mittleren Weg zu folgen ist nämlich nicht so einfach, wie es zunächst erscheint und wie man vielleicht glaubt. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, den wir nicht leichtfertig übergehen sollten. Warum ist es nun so schwierig, dem mittleren Weg zu folgen? In einer Hinsicht ist das Problem jedoch sehr einfach. Der mittlere Weg ist ein geistiges Konzept, also ein Ideal, das wir uns zwar gut vorstellen können, es ist jedoch nicht die Wirklichkeit selbst, es ist nicht unser Leben. Ideale sind immer einfach zu denken und schwer zu verwirklichen. Sie sind eben Ideen und nicht die Wirklichkeit.

Wir wundern uns vielleicht darüber, dass Gautama Buddha uns lehrte, etwas anzustreben, das in der wirklichen Welt nicht zu erreichen ist. Warum sagte er uns nicht, dass wir unsere Träume und Ideale vergessen sollten, um nur in der unfassbaren Wirklichkeit und Wahrheit zu leben? Ich fürchte, dass seine Schüler ihn mit einem verständnislosen Ausdruck im Gesicht angestarrt hätten, wenn er sie dies gelehrt hätte. Wie kann man aber in einer mit dem Verstand nicht fassbaren Wirklichkeit leben? Wie kann man etwas suchen, das keinen Namen hat und nicht genau beschrieben werden kann? Am Anfang unseres Studiums des Buddhismus scheinen die Lehren des unfassbaren Dharma und der unfassbaren Wirklichkeit unklar und nicht besonders wichtig zu sein. Wir brauchen daher ein geistiges Bild, das einfacher zu verstehen ist, wir benötigen eine Idee, die direkter mit unserer täglichen Erfahrung verknüpft werden kann. Ich denke, dass Gautama Buddha dies sehr genau wusste. Er wusste, dass die Menschen ein verständliches Ziel benötigen – eine Idee, die als Ziel oder Leitlinie für ihre Bemühungen im Leben dienen kann.

Der mittlere Weg ist ein solches Ziel. Es ist in der Tat ein gutes Ziel, dass wir ein ausgeglichenes, harmonisches Leben führen und extreme Sichtweisen und Handlungen vermeiden sollten. Dieses Ziel können wir mit unserem Geist leicht erfassen. Der mittlere Weg ist ein Ideal, aber er spiegelt die wirkliche Natur des Universums wider. Es ist ein Ideal, das realistisch ist und unser Leben nachhaltig verbessert. Unser Bemühen, ein Leben auf dem mittleren Weg zu führen, wird uns im Laufe der Zeit zu Harmonie mit der Welt, den Menschen und dem Universum führen.

Danach können wir das Ideal eigentlich vergessen und einfach in der wirklichen Welt leben und handeln. Wenn wir ein einfaches, realistisches Ziel haben, ist dies ein wichtiger Ausgangspunkt für viele menschliche Handlungen und Unternehmungen. Gautama Buddha berücksichtigte diese Tatsache, indem er den mittleren Weg lehrte. Wenn man die Notwendigkeit eines Zieles anerkennt, bedeutet dies, dass wir die Wichtigkeit von Idealismus und Idealen in unserem Leben anerkennen. Dies ist, denke ich, die tiefere Bedeutung der buddhistischen Lehre des mittleren Weges.

Auch Meister Dogen hat den Wert des Idealismus anerkannt, aber auf eine andere Art und Weise. Im Shobogenzo drängt er uns oft, den Willen zur Wahrheit zu erwecken, zu pflegen und zu bewahren. „Wille zur Wahrheit“ ist meine Übersetzung des Sanskritwortes „Bodhicitta“. Es bezeichnet ein sehr altes Konzept im Buddhismus und in den Arbeiten von Meister Dogen nimmt es einen besonders wichtigen Platz ein. Er sagt mit Nachdruck, dass es von herausragender Bedeutung für das Studium des Buddhismus ist, den Willen zur Wahrheit zu besitzen und weiter zu entwickeln.

Wir mögen hervorragende Kenntnisse der buddhistischen Theorien und sogar der Übungspraxis haben, aber ohne den Willen zur Wahrheit ist ein solches Wissen weitgehend sinnlos. Auf der anderen Seite unterstreicht Dogen, dass Fehler und falschen Handlungen in unserem Leben eine wichtige Voraussetzung für den Lernprozess sind, durch den wir die Wahrheit erlangen und sogar die Ursache dafür sein können, dass wir sie erlangen, sofern wir den Willen zur Wahrheit in unserem Leben fest verankert haben.

Als ich solche Sätze zuerst im Shobogenzo las, verstand ich, dass der Glaube an den Willen zur Wahrheit bei Meister Dogen unerschütterlich war und keine Kompromisse zuließ, aber ich konnte nicht verstehen, warum dies so wichtig sein sollte. Ich wunderte mich darüber, dass er eine so hohe Meinung vom Willen zur Wahrheit hatte. Jetzt, im Licht meiner eigenen Erfahrung eines langen Lebens, kann ich den Grund für diesen kompromisslosen Glauben verstehen. Ich denke, wir können ihn in der Geschichte seines Lebens selbst finden. Er begann das Studium des Buddhismus als er noch sehr jung war. Damals hatte er keine klare Vorstellung von dem, was Buddhismus wirklich ist. Er hatte viele zum Teil einseitige Ideen und idealistische Fantasien, aber er konnte den Buddhismus letztlich überhaupt nicht verstehen.

Er konnte weder die Sutras noch die buddhistische Theorie und auch nicht die Lehren seiner Meister wirklich begreifen. Seine Gedanken über den Buddhismus waren meist den Absichten Gautama Buddhas vollständig entgegengesetzt. Er hatte keinen Maßstab, um die Wahrheit von der Unwahrheit zu unterscheiden, kein realistisches Ziel, auf das er zuarbeiten konnte. Er hatte in seiner ganzen Verwirrung wirklich nichts als den Willen zur Wahrheit.

Daher wurde der Wille zur Wahrheit zum Maßstab seines Lebens. Seine fehlerhaften Ideen und Fantasien trieben ihn vorwärts. Als er den Realitäten des Lebens begegnete, musste er viel leiden und geriet in immer neue Verwirrungen, aber diese Leiden und diese Verwirrungen stärkten seine Entscheidung, nur die Wahrheit zu suchen. So erreichte Meister Dogen schließlich trotz der zahllosen Fehler, Missverständnisse und persönlichen Schwierigkeiten das Ziel, das er vorher nicht klar in seinem Geist gesehen hatte. Dies war für ihn eine äußerst wichtige Tatsache. Wenn er an die Erfahrungen seines Lebens dachte, fühlte er ohne jeden Zweifel, dass der einzige wahre Führer sein Wille zur Wahrheit gewesen war.

Dies ist der Grund, denke ich, warum Meister Dogen den Willen zur Wahrheit so hoch schätzte. Er glaubte, dass der Wille zur Wahrheit unser wahrer Verbündeter und unser wahrer Freund im Leben ist. Diesen Verbündeten sich zu erhalten, ist daher die wichtigste Pflicht im menschlichen Leben. Wir sollten keine Angst vor Leiden, Verwirrungen und großen Schwierigkeiten haben, aber wir sollten Angst davor haben, den Willen zur Wahrheit zu verlieren. Ohne den Willen zur Wahrheit können wir niemals die höchste Bestimmung des menschlichen Lebens erreichen.
Daher ist der Wille zur Wahrheit für uns von grundlegender Bedeutung. Er ist die Kraft und Unruhe, die uns vorwärts treibt auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und die Quelle einer besseren Lebensweise und des Glücks. In diesem Sinne stehen daher alle unsere Bemühungen im Leben in einem direkten Zusammenhang mit dem Willen zur Wahrheit.

Wenn wir Philosophie oder Religion studieren, haben wir anfangs meist eine bestimmte Motivation, die rein, spirituell und sehr idealistisch ist. Meister Dogen fühlte, dass eine solch idealistische Anstrengung, unser eigenes Leben verstehen zu wollen, der aufrichtige und natürliche Ausdruck des Willens zur Wahrheit ist. Daher lehnte er auch später den Idealismus nicht ab. Im Gegenteil, er sah ihn als Ausdruck des menschlichen Willens an, etwas wissen und verstehen zu wollen. Er fühlte, dass die idealistische Form des Willens zur Wahrheit eine wichtige Phase in der Entwicklung des einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit darstellt.
Ich glaube daher, dass Meister Dogen und Gautama Buddha sehr ähnliche Einstellungen zu Idealen und zum Idealismus hatten. Sie verstanden, dass die Menschen zuerst einmal Idealisten sein müssen. Wenn die Menschen dem Buddhismus begegnen, werden sie ihn zunächst immer auf der Grundlage idealistischer Gedanken studieren.

Dies ist eine notwendige Phase des menschlichen Verstehens, eine natürliche Stufe, durch das Leben die großen Probleme des Lebens selbst zu lernen. Daher sieht der Buddhismus den Idealismus als einen Anfangspunkt allen Denkens und Verstehens an, aber er ist nicht das endgültige Ergebnis oder die höchste Wahrheit, sondern er ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu dieser Wahrheit. Ohne unsere Träume, Ideen und Ideale können wir niemals unsere Reise zur Wahrheit beginnen, weil wir keine Vorstellung von der Richtung hätten und kein Ziel, auf das wir uns zu bewegen könnten. Die geistigen Bilder, Ziele und Ideen, welche die erste Stufe unseres Verstehens kennzeichnen, sind daher sehr wichtig für uns. Sie geben uns einen ersten Eindruck von einer komplexen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit mit vielen verschiedenen Gesichtern. Idealistische Bilder der Wahrheit sind in der Tat ein bestimmtes Gesicht dieser Wirklichkeit – ein Gesicht der wirklichen Welt.

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