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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Sonntag, 9. Juni 2013

Untersuchung der externen Welt (Samskrta pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 7, Teil 2


Vers 16
Viele Dinge und Phänomene unseres Alltags sind stabil und als solche haben wir sie in unserem subjektiven Bewusstsein. Daher haben wir Vertrauen, dass diese realen stabilen Dinge eine wirkliche Existenz haben.

Nagarjuna unterscheidet hier also zwischen subjektiven  Vorstellungen, die sich ganz konkret auf reale und stabile Dinge beziehen, und illusionäre und täuschende Ideen, die eher Fantasiegebilden gleichen.

Diesen Vers kann man auch so verstehen, dass wir uns nicht von übertriebener Panik und Horrorvisionen anstecken lassen, die sich weit von der Wirklichkeit entfernt haben.

Vers 17
Das Gesetz von Ursache und Wirkung ist rational und beschreibt, wie die Wirklichkeit funktioniert. Wir Menschen glauben aber häufig an Wunder und unmögliche Zusammenhänge, die es in der Wirklichkeit überhaupt nicht geben kann.

Was unmöglich ist, sollte daher auch nicht (als real) gedacht werden. Denn denken kann man alles, auch wenn es mit der Wirklichkeit überhaupt nicht übereinstimmt.

In einem solchen Zusammenhang kann das Wort Existenz eine sehr verschwommene Bedeutung erlangen, weil sich der Inhalt nicht mehr auf die Wirklichkeit und die wahre Existenz bezieht.

Besonders gefährlich ist es, wenn wir wichtige Entscheidungen unseres Lebens auf völlig unsicheren Grundlagen von Glauben, Illusionen, Hoffnungen und Ängsten aufbauen.

Vers 18
Die Phänomene genau vor unseren Augen sind die Wirklichkeit, nichts mehr und nichts weniger. Selbst wenn die sinnliche Wahrnehmung dieser Phänomene gewisse Unsicherheiten hat, ist die direkte Beobachtung der Dinge und Phänomene der Wirklichkeit meist ziemlich nahe.
Manche meinen allerdings, dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt, aber wenn wir die Wirklichkeit immer genauer kennenlernen, verlassen wir irrigen Vorstellungen, an denen wir früher gehangen haben.

Eine sachliche unverstellte Beobachtung ist ein Fortschritt in der Menschheit. Dadurch konnten z.B. gravierende Irrtümer der christlichen Religion im Mittelalter, die den Menschen großes Leid zugefügt haben wie die Inquisition, überwunden werden.

Vers 19
Wenn wir daran glauben, dass diese Welt nicht real ist, entstehen Ideen und Vorstellungen von einer sehr unstabilen Welt. Ein solcher Glaube ist durchaus häufig.

Viele heilige Bücher der Religionen enthalten Wunder, die das Gesetz von Ursache und Wirkung auszuhebeln scheinen. Dies entspricht nicht der buddhistischen Lehre.

Häufig wird auch geglaubt, dass es in früheren Zeiten derartige Abweichungen des Gesetzes von Ursache und Wirkung bei Wundern gegeben hat und dass sich derartige Ereignisse gegenwärtig allerdings nicht mehr manifestieren.

Dies entspricht ebenfalls nicht der buddhistischen Wahrheit.

Vers 20
In dem Maße, wie sich die realen Dinge und Phänomene vor uns manifestieren, ist auch das Abstrakte frei, unbehindert und (nicht verengt). Häufig geht nämlich sonst abstraktes Denken an der Wirklichkeit vorbei und erzeugt dadurch Blockaden und unnötige Grenzen.

Die Wirklichkeit manifestiert sich direkt vor uns, und zwar bevor sich Subjektives und Objektbezogenes getrennt hat.

Dieser Vers hat hohe Bedeutung um Fantasie und Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist nicht zuletzt für abstrakte Vorstellungen und Aussagen für deren Wirklichkeitsgehalt ganz entscheident.
Kapitel 7

Vers 21
Wenn wir im Gleichgewicht sind, werden fast alle abstrakten Vorstellungen und Lebensrichtlinien überflüssig und gegenstandslos. Normalerweise hängen wir an verengte Weltanschauungen, als ob sie für unser Leben notwendig sind und wir ohne sie im Chaos versinken. Meistens handelt es sich allerdings dabei um Ideologien, die häufig unbewusst sind.

Wenn wir nicht im Gleichgewicht sind, haben derartige Weltanschauungen und Ideologien große Macht über uns. Dann können wir die wahre Existenz überhaupt nicht wahrnehmen und sie kann sich nicht vor uns manifestieren.

Je weniger wir im Gleichgewicht sind, desto mehr benötigen wir also Weltanschauungen, Vorurteile und Ideologien und klammern uns daran wie ein kleines Kind an sein Laufgitter. Aber dadurch werden wir selbstverständlich unfrei und haben nur sehr begrenzte Steuerungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade in unserem Leben.

Vers 22
In diesem Vers bedeutet Stabilität das Reale und Instabilität das Nicht-Reale. Stabilität bedeutet jedoch nicht, dass sich in der Welt nichts verändert. Im Gegenteil alles ist im Fluss und alles wandelt sich, wenn wir die lineare Zeit und das Gesetz von Ursache und Wirkung einbeziehen.

Aber in solchem Wandel gibt es auch Ruhe und Stabilität, also einen Zustand im dynamischen Gleichgewicht. Dies gibt unserem Leben Mitte und Ruhe.

Unrealistische Gedanken, Befürchtungen und Erwartungen verunsichern unser Leben und zerstören unsere Stabilität. Wir sind dann verunsichert und hektisch.

Wie erwähnt sind Vergangenheit und Zukunft keine Zustände der Wirklichkeit, sondern gedachte, meist abstrakte Vorstellungen.

Vers 23
Der ruhige stabile Zustand existiert auf der Grundlage der Selbststeuerung. Aber ein (scheinbar) stabiler Zustand kann auch ohne Gleichgewicht sein und gleicht dann eher einem starren unbeweglichen Leben. Dann handelt es sich nur um eine scheinbare künstliche Stabilität, die den Menschen einengt und nur eine Scheinsicherheit im Auf und Ab des Lebens gibt. Eine solche Scheinsicherheit kann schon durch kleine Anlässe zerstört werden und führt dann ins Unglück.

Leider muss gesagt werden, dass auch falsche Meditations-Techniken zu einer Scheinsicherheit und Scheinstabilität führen. Dies gilt insbesondere wenn sie den Ich – Stolz und ein aufgeblasenes Ego unterstützen.

Den stabilen Zustand im Gleichgewicht kann man sich so vorstellen, dass eine Perle auf der Schneide einer Rasierklinge im Gleichgewicht balanciert. Wenn es ein falsches Gleichgewicht ist, so fällt sie bei geringstem Anlass wie zufällig auf die eine oder andere Seite. Das Leben ist dann dem Zufall unterworfen und außer Kontrolle geraten und ohne Selbststeuerung.

Vers 24
Auch Altern und Tod sind stabil im wahren Gleichgewicht. Dies gilt für Menschen und auch für die Welt und das Universum als Ganzes.

Wenn es kein Altern und Sterben gäbe, wäre die Harmonie der Welt überhaupt nicht möglich, daher gehört beides zum dynamischen Gleichgewicht des Lebens.

Die konkrete Stabilität der wirklichen Welt ist so wie sie ist und sie ist unabhängig davon, ob wir selbst auf einem stabilen oder nichtstabilen Zustand aufbauen. Die dynamische Selbststeuerung der Welt basiert also auf einem stabilen Gleichgewicht.

Subjektive Vorurteile können dagegen keine Stabilität geben. Auch der Glaube an eine unveränderliche getrennte Seele (Atman), die von Gautama Buddha fundamental abgelehnt wurde, gibt keine Sicherheit und Stabilität. Das gleiche gilt für unrealistische höchste Geister und spiritualistische Scheinwirklichkeiten.

Vers 26
Selbststeuerung und Disziplin sind wesentliche Bereiche der buddhistischen Praxis. Und ohne sie kann keine Erleuchtung und kein Erwachen verwirklicht werden. In der letzten Zeit träumen vielleicht manche davon, ohne Anstrengung und Disziplin Erleuchtung zu erlangen, aber das ist unmöglich.

Was schon gesteuert, ist kann nach Nagarjuna nicht noch einmal gesteuert werden. Denn es ist der natürliche Zustand, der nicht mehr gesteigert werden kann.

Wenn wir uns wirklich klar darüber sind, dass wir keine Selbststeuerung und damit keine Erleuchtung haben, so kann dies der Anfang intensiver Praxis sein. Dadurch wird bereits der Zustand der fehlenden Selbststeuerung überwunden.

Was noch nicht entstanden ist, also keine Wirklichkeit besitzt, kann auch nicht der Selbststeuerung unterliegen. Dies gilt vor allem für Ideen und Fantasien über die Zukunft, die keine Wirklichkeit sein kann.

Vers 27
Je starrer unser Leben in feste Raster gepresst wird, desto schwieriger ist es, dass sich die wahre Selbststeuerung ereignen kann. Ein derartiges starres Raster ist das Gegenteil der erwähnten Disziplin bei der buddhistischen Praxis.

Wenn der Zustand unserer wahren Existenz nicht in ein festes Schemer oder in Ideologien gepresst wird, kann sich der freie Zustand der Selbststeuerung besser entfalten als bei irgendwelchen anderen Bedingungen.

Die Zazen-Praxis kann zu Anfang durchaus anstrengend sein und Disziplin erfordern. Aber unser Geist befreit sich dabei und schüttelt Ideologien und Starrheit ab.

Vers 28
Der Zustand des Gleichgewichtes ist eine einfache Tatsache im gegenwärtigen Augenblick. Er wird nicht durch äußere Umstände oder Tatsachen bestimmt, die von außen auf uns einwirken.

Der Zustand des Gleichgewichts kann uns auch nicht von einem anderen Menschen (auch keinem Lehrer) geschenkt werden und kann noch viel weniger durch Drogen oder bestimmte spiritistische Techniken herbeigeführt werden.

Abstrakte Vorstellungen und Konzepte können niemals den Zustand der Selbststeuerung und des Gleichgewichts erzeugen.

Vers 29
Der höchste Zustand der Selbststeuerung kann sich nicht manifestieren, wenn der höchste Zustand des Gleichgewichts nicht da ist. Beide Zustände sind also identisch.

In gleicher Weise sagt Dôgen, dass die Zazen-Praxis und die Erleuchtung immer zusammenfallen und nicht getrennt werden können. Zazen ist daher identisch mit Selbststeuerung.

Vers 30
Je mehr wir uns von der Wirklichkeit entfernen, desto weniger manifestiert sich die Selbststeuerung. Wenn wir also aus der wirklichen Welt entfliehen, wird es schwierig oder unmöglich die Selbststeuerung und die Erleuchtung zu erlangen.

Die Dinge und Phänomene existieren überall in der Welt und im Universum. Sie sind nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt. Die vielfältige Wirklichkeit existiert also ganz real. Es ist daher unsinnig zu behaupten, dass Nagarjuna die Nichtexistenz oder den Nihilismus lehrt. Das Gegenteil ist richtig.

Vers 31
Abstrakte Ideen in unserem Gehirn können niemals wahrhaftig existieren. Solche abstrakten Vorstellungen, Ideen und Fantasien können sich daher im Zustand der Selbststeuerung nicht manifestieren und verwirklichen.

Wenn aber die mentalen Überlegungen und Denkprozesse wie die Wahrnehmung der Sinnesorgane richtig arbeiten und funktionieren, erkennen wir die vielfältigen Dinge und Phänomene dieser Welt recht genau.

Oft mag es für uns schwierig sein, die konkreten Dinge und Phänomene direkt vor uns als Wirklichkeit anzuerkennen. Wir verlieren uns leicht in unseren abstrakten Ideen und Fantasien und vergessen, dass sie nicht real sind.

Vers 32
Selbststeuerung kann niemals auf der Grundlage einer rein subjektiven abgegrenzten Seele, wenn wir also nur auf uns selbst konzentriert und bezogen sind. Im alten Indien wurde ein solches abgegrenztes Ich als Atman bezeichnet.
Dasselbe gilt für eine Überhöhung des eigenen Ichs.

Die wahren Phänomene in ihrer reinen Bedeutung beruhen ebenfalls nicht auf einem subjektivistischen abgegrenzten Ich oder einem überhöhten Ego.

Der Zustand der Selbststeuerung ist etwas Wirkliches, dass im gegenwärtigen Augenblick tatsächlich und einfach existiert. Die Selbststeuerung ist nicht die Funktion eines subjektiven Atman. Sie ist auch nicht identisch mit einem isolierten Geist, der unabhängig von unserem Körper sein soll.

Vers 33
Die wirkliche Existenz und das wahre Sein der externen Welt gibt es nur im Augenblick. Wenn wir die (gedachte) lineare Zeit voraussetzen, können wir die reale Außenwelt im Entstehen, in der Fortdauer und in dem Vergehen überhaupt nicht wirklich erkennen.

Die externe Welt gibt es nicht in der Unwirklichkeit. Die externe Welt ist dann nicht nur eine Einbildung und Fiktion.

Nach Nagarjuna gibt es auch keine andere wirkliche Welt als die diese eine Externe, die wir unmittelbar wahrnehmen und erfahren. Das heißt Nagarjuna lehnt es schlicht weg ab, dass wir in einer anderen Welt leben können als in der unmittelbar extern Gegebenen. Spiritualistische Traumwelten und Illusionen haben für ihn keine reale Bedeutung und sind lediglich Fantasiegebilde in unserem unrealistischen Geist.

Vers 34
Nagarjuna vergleicht die Illusionen und Vorstellungen der linearen Welt mit der mythischen Stadt Gandharva, die es im Himmel geben soll die aber nicht real ist.

Die lineare Zeit der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entsprechend dem Entstehen, Fortdauern und Vergehen ist eine solche abstrakte Vorstellung, an die wir uns jedoch total gewöhnt haben, nicht zuletzt wegen der modernen Uhren, die es im damaligen Indien selbstverständlich noch nicht gab:
Das wirkliche Sein und die wirkliche Existenz erleben und erfahren wir nur im gegenwärtigen Augenblick.


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