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Meister Nishijima praktiziert Buddhismus seit über 60 Jahren. Er war Schüler von Meister Kodo Sawaki, einem japanischen umherziehenden Priester, der berühmt dafür war unermüdlich zu betonen, dass die Praxis des Zazen ihren richtigen zentralen Platz im Buddhismus erhält und der selbst intensiv praktizierte. Meister Nishijima wurde von Meister Renpo Niwa als Priester ordiniert, der später als Abt den Zentraltempel des Soto-Buddhismus leitete. Nishijima Roshi hat viele Bücher über Buddhismus u.a. von Dogen sowohl in Japanisch als auch in Englisch geschrieben. Über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren hat er in Japanisch und Englisch viele Vorträge gehalten, Seminare und Sesshins geleitet sowie genaue Anweisungen zum Buddhismus und vor allem zum Zazen gegeben. Deutsche Fassung: Yudo J. Seggelke

Donnerstag, 25. Juli 2013

Untersuchung der Zeitpunkte des Beginns und des Endes (Purvaparakoti pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 11



 Die Geburt ist der Anfang und der Tod das Ende des Lebens. Normalerweise feiern wir die Geburt und trauern beim Tod eines Menschen. Nach dem Mittleren Weg des Buddhismus ist es nicht sinnvoll, weder überschwänglich optimistisch noch total pessimistisch zu sein. Es ist nicht sinnvoll, sich in übergroße Emotionalität des Glücks und der Trauer zu verlieren. Beide Extreme treten vor allem auf, wenn bei einem Menschen der Idealismus oder der Materialismus bei weitem überwiegt.

In diesem Kapitel wird Beginn und Ende, also Geburt und Tod, aus buddhistischer Sicht untersucht. Dabei ist zu beachten, dass nach der Lehre der Wiedergeburten vor allem in der vorbuddhistischen Zeit ein konstanter Seelenkern gezwungen ist, von einem Leben in das Nächste weiter zu gehen, um schlechtes Karma abzuarbeiten. Dies ist mit dem Atman – Glauben verbunden, den Gautama Buddha in der herkömmlichen Form ablehnte, weil er dem Überwinden des Leiden schadete.

Vers 1
Nagarjuna zitiert Gautama Buddha, der vor seinem Tode klar sagte, dass das jetzige Leben mit all seinen Höhen und Tiefen ganz ausgezeichnet sei. Es habe den höchsten Wert. Wir werden also nicht durch unser Leben geknechtet und gefesselt, so als ob wir einen Ring durch die Nase hätten, wie die Zugtiere im alten Indien.

Unser ist also ein Grund zur größten Freude Leben, auch wenn es Höhen und Tiefen hat. Buddhas Lehre unterscheidet sich damit fundamental von den Glaubensreligionen, die das jetzige Leben als Jammertal einschätzen und ein paradiesisches jenseitiges Leben voraussagen.

Vers 2
Idealisten neigen zu Übertreibungen, zum Besten und zum Schlechtesten, sie leben nicht im Gleichgewicht. Materialisten kalkulieren meist zu ihrem eigenen egoistischen Vorteil und bewerten Situationen so, dass sie für sich selbst das Beste herausholen. Diese beiden Lebensformen unterscheiden sich grundsätzlich von dem Mittleren Weg im Buddhismus, den Gautama Buddha schon vor 2500 Jahren als den einzig richtigen gelehrt hatte.

Ähnliches gilt für die Weltanschauung von der Zeit. Bei dem Ansatz der linearen Zeit vergleichen wir einen früheren mit einem späteren Zustand; dies ist ein gedanklicher Vorgang des Vergleichens und Bewertens. Die existentielle Sein–Zeit gibt es aber nur im gegenwärtigen Augenblick. Prozesse in der linearen Zeit sind nicht die Sein – Zeit des Augenblicks. Sie mögen für organisatorische und technische Aufgaben manchmal angemessen sein, aber sie können die Wirklichkeit der Sein–Zeit im Augenblick nicht realisieren.

Vers 3
Bevor sich die Geburt ereignet hat, gehören Altern und Tod zur Zukunft und sind damit keine Wirklichkeit. Nach der Geburt besteht jederzeit die Möglichkeit des Todes, und auch Altern ist ganz natürlich.

Geburt und Tod können auch symbolisch verstanden werden: Die Geburt einer Idee ist deren Beginn und das Ende ist deren Tod, oft die Klarheit einer Täuschung als Idee aufgesessen zu sein.

Handeln hat immer Auswirkungen, die in der Wirklichkeit der Welt bestehen bleiben. Sie sind also weiter in allen folgenden Augenblicken wirksam. Insofern kann man auch davon sprechen, dass die Wirkungen unserer Taten „ewig“ sind.

Vers 4
In der Welt kann nichts gegen das Gesetz von Ursache und Wirkung existieren und es gibt nichts ohne Vernunft und gegen rationale Ursachen.

Es ist für den denkenden Geist unmöglich, Altern und Tod präzis und genau voraus zu denken, sondern dabei ist immer ein hohes Maß an wirklichkeitsfremden Spekulation relevant, die oft zusätzlich von starken Emotionen, z. B. Angst, gesteuert werden.

Vers 5
In der Existenz-Zeit (Sein-Zeit) des Augenblicks ist die Geburt nicht mit dem Altern und Tod verbunden. Denn eine solche Verbindung wird nur vom denkenden Geist hergestellt. Sie sind eigenständige gegenwärtige Augenblicke der Sein–Zeit.

Die Sehnsucht nach dem Tod entspringt häufig dem Umstand der Verantwortung des Lebens zu entfliehen. Eine solche Flucht ist mit der Vernunft nicht vereinbar.

Die Geburt wird von den Menschen oft magisch interpretiert, und auch dies ist gegen das Gesetz von Ursache und Wirkung, also gegen die Vernunft. Allerdings ist es richtig, dass niemals alle Faktoren und Ursachen der Geburt mit dem denkenden Verstand erfasst werden könne.

Vers 6
Es ist unmöglich, mit dem denkenden Verstand absolute Klarheit für das Altern und die Geburt in Bezug auf den Augenblick der Gegenwart zu erlangen. Es gibt zudem keinen zeitlichen Prozess im gegenwärtigen Augenblick, der nur ein Punkt der gedachten linearen Zeit ist, aber das wahre Sein verwirklicht.

Altern und Geburt gibt es in sehr verschiedenen Arten und Formen, die wirkliche jeweilige Situation kann dabei nicht vollständig durchschaut werden.

Vers 7
Die reale Praxis und die Methode des wahren Handelns sind eine Einheit. Genauso sind die äußere Form und Charakteristika der Dinge und Phänomene eine unteilbare Einheit.

Die Sinneswahrnehmung in der wirklichen Welt und die Reizungen der Sinnesorgane sind ebenfalls eine Einheit. Dies gilt insbesonder für das, was wir wahrnehmen.

Auf dem Mittleren Weg ist dies alles eine einfache Tatsache der wirklichen Welt, die direkt und unbestreitbar vor uns existiert.

Vers 8
Der Wert unseres Lebens hängt wesentlich davon ab, dass wir das Ende einbeziehen. Unser Dasein ist kurzlebig und das macht es so überaus wertvoll.

Aber unabhängig davon, ob wir den Wert des Lebens und der Welt erkennen, sind die verschiedenen Dinge und Phänomene wirklich vorhanden, in ihrer Würde und Schönheit. D.h. ihr Wert ist unabhängig davon, ob wir ihn erkennen.

Es ist sicher richtig, dass wir es bisher häufig versäumt haben, den Wert der Schönheit des Lebens wirklich zu erkennen.


Sonntag, 14. Juli 2013

Untersuchung der Einheit von Feuer und Verbrennung (Agnindhana pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel Kapitel 10


Das Beispiel des Feuers hat im alten Indien eine sehr große Bedeutung gehabt: als Realität, spiritueller Inhalt und in seiner Funktion für die Menschen. Feuer ist neben anderem ein physikalisches Element und wird dann rein materiell verstanden. Was wir in der modernen Naturwissenschaft und Technik als Element bezeichnen, ist von den altindischen Elementen zum Teil recht verschieden. Heute basieren Elemente immer auf Atomen, Molekülen oder deren Elementarteilchen. Die Flamme oder das Feuer würden wir daher nicht als materielles Element bezeichnen.

Das Feuer hat für das praktische Leben der Menschen seit seiner Kultivierung eine sehr große Bedeutung,  z.B. für die Zubereitung des Essens, beim Kochen und Braten. Dadurch konnte die Ernährung der Menschen schon in archaischen Zeiten wesentlich verbessert werden. In kalten Regionen wurde das Feuer darüber hinaus zum Heizen verwendet.

In der frühindischen Religion spielt der Feuergott eine große Rolle und die Feuerzeremonien, die von den Brahmanen ausgeführt wurden, hatten zentrale Bedeutung für das religiöse Leben und den Glauben.

Damit sind drei wesentliche Bedeutungsfelder des Feuers angesprochen: Eine konkret materielle als Element, eine in der Funktion für den Menschen und eine dritte nicht minder wichtige als Abstraktion, Vorstellung und Glaube, einschließlich den darauf aufbauenden Feuerzeremonien.

Nagarjuna behandelt in diesem Kapitel zum einen die abstrakte Idee und Vorstellung des Feuers und zum anderen das konkret Materielle beim Verbrennungsprozess, den wir heute physikalisch und chemisch sehr genau kennen. Das im Titel dieses Kapitels verwendete Sanskritwort indhana hat die konkret materielle Bedeutung von Brennstoff, Holz und Gras usw., die für das Feuer verwendet wurden.

Das Feuer wird in der buddhistischen Lehre und Praxis häufig behandelt und ist Teil in verschiedener Zeremonien. Es hat z.B. in den hochgelegenen Klöstern in China und Japan, in denen es im Winter bitterkalt war, die ganz besondere Bedeutung, weil sich die Menschen so wärmen konnten. Aus China sind daher auch zahlreiche Kôan-Gespräche großer Meister zum Thema des Feuers überliefert.

Häufig wird am Beispiel vom Feuerholz, dem Verbrennungsprozess und der übrig bleibenden Asche die Frage untersucht, wie das Verhältnis des Ergebnisses, also der Asche, zum Feuerholz und zum Feuer zu verstehen ist. Dabei wird insbesondere durchleuchtet, wie ein Ergebnis durch die intellektuelle Tätigkeit des Geistes mit dem vorherigen Zustand und Material in Verbindung steht. Wenn nach der Verbrennung das Feuerholz restlos verschwunden ist, und zu einem späteren Zeitpunkt die Asche da ist, neigen wir wie selbstverständlich dazu, die Asche als das Ergebnis der Verbrennung des Brennstoffes zu sehen. Dieser Zusammenhang bedarf jedoch einer genaueren Analyse, nicht zuletzt in Bezug auf die Frage, welche Realitäten jeweils im Augenblick existieren und welche Zusammenhänge nur mental durch unser Gehirn hergestellt werden.

Besonders interessant und aufschlussreich ist eine derartige Untersuchung, wenn wir das Handeln im Augenblick als einzige Wirklichkeit erkennen. Derartige Untersuchungen sind in der westlichen Philosophie leider kaum vorhanden und wenig ausgearbeitet. Die westliche Philosophie bleibt meistens dem Ideellen des Geistes oder dem Materiellen der physikalisch-chemischen Dimension verhaftet.

Vers 1
Die abstrakte Idee des Feuers, z.B. als Vorstellung in unserem Gehirn, und die materielle Verbrennung können wir unterscheiden. Die Wirklichkeit der konkreten Flamme geht aber darüber hinaus, so wie das konkrete Handeln über die Abstraktion des menschlichen Verhaltens hinausgeht.

Es ist selbstverständlich, dass es keine Flamme ohne den physikalisch-chemischen Vorgang der Verbrennung geben kann. Eine Trennung von beidem wäre daher absurd.

Vers 2
Die abstrakte Idee des ewigen Lichtes und der ewigen Flamme ist etwas anderes als die konkrete Flamme direkt vor uns im Hier und Jetzt.

Die Idee des ewigen Lichtes kann leicht missbraucht werden, sie ist dann völlig wertlos und hat keine Bedeutung für unser Leben. Wer eine Flamme, z.B. einer Kerze oder einer Öllampe, genau und offen beobachtet, wird feststellen, dass die Flamme ein wirkliches Wunder ist.

Vers 3
Durch die Idee des ewigen Lichtes dürfen wir die Bedeutung und konkrete Beobachtung der Wirklichkeit nicht verlieren. Wer einseitig an das ewige Licht glaubt, nur als abstrakte Idee, kann leicht in Ablehnung und Nihilismus der realen Welt verfallen, diese Welt ist aber direkt um uns.

Dann wäre die Idee des ewigen Lichtes nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich für unser Leben im Hier und Jetzt.

Es ist daher unsinnig, die abstrakte Idee und Vorstellung der Verbrennung oder anderer Arten von Abstraktionen von der wirklichen Flamme zu trennen.

Eine übergroße Sehnsucht nach dem ewigen Licht führt zum Anhangen und zur Abhängigkeit von solchen idealisierten Vorstellungen.

Vers 4
Nagarjuna betont in diesem Vers, dass wir sehr genau analysieren sollen, ob ein angestrebtes Ziel auch wirklich erreicht worden ist oder ob wir uns dabei etwas vormachen. Bei der Frage ob ein Ziel erreicht worden ist, dass wir gern erreichen würden, ist daher unbedingt Sachlichkeit erforderlich, um nicht Illusionen mit der Wirklichkeit zu verwechseln.

Außerdem kann die Zukunft nie im Einzelnen ganz genau vorhergesehen werden, sodass auch den Zielen immer diese Unsicherheit der Zukunft anhaftet. Die Zukunft kann niemals so genau sein wie die Realität im gegenwärtigen Augenblick.

Es gibt Dinge und Phänomene in dieser Welt, die nicht zerstört werden können und dies gilt auch für die Zukunft. Manche Sorgen und Ängste über die Zukunft sind daher von den Tatsachen her unbegründet.

Nagarjuna vergleicht die wirkliche langfristige Bedeutung der Begriffe Feuer, Verbrennung und Flamme mit dem Geschlecht der Worte in der Sprache: Begriffe wie maskulin, feminin oder Neutrum werden auch in Zukunft gleiche oder ähnlich Bedeutung haben.

Vers 6
Nagarjuna kommt noch einmal auf das Geschlecht der Wörter zu sprechen. Im Sanskrit ist Verbrennung weiblich und Feuer männlich. Eine gedankliche Trennung oder Veränderung des Geschlechts der Worte ist nicht sinnvoll.

Die materielle Dimension der Verbrennung, die wir naturwissenschaftlich recht genau beschreiben können, verliert wesentlich an Bedeutung, wenn wir sie von dem Feuer als abstrakte Vorstellung und deren Bedeutung trennen. Das heißt, dass die nur materielle Dimension der Dinge und Phänomene dieser Welt ohne deren Sinn und die Idee unser Leben verarmen und austrocknen. Diese Aussage Nagarjunas ist in der Gegenwart des Materialismus und der jetzigen spirituellen Verarmung besonders wichtig.

Am Beispiel der Worte und deren Geschlechts können wir zudem aufzeigen, dass das Weibliche auch das Männliche enthält und umgekehrt.

Vers 7
Wenn wir in der konkreten Wirklichkeit gedanklich das Feuer von der Verbrennung trennen, so ist es auch umgekehrt möglich, die Verbrennung von dem Feuer zu trennen. Das ist zwar beim Denken möglich, aber in der Wirklichkeit natürlich nicht. Daher ist es so wichtig, dass wir unsere Ideen und Gedanken mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen.

Die Einheit von Feuer und Verbrennung ist vollkommen. Dies kann man gleichnishaft auch so ausdrücken, dass sich Feuer und Verbrennung nicht als etwas jeweils anderes bemerken können.

Vers 8
Die Fähigkeit konkret die Flamme als Ganzes zu erkennen, ist die Grundlage für materielle Theorien der Verbrennung als Prozess und für die abstrakten Ideen über das Feuer. Daher ist die Verbrennung als Teildimension gegenüber der ganzheitlichen Erfahrung der Flamme eher neben geordnet. Ähnliches gilt für abstrakte Ideen über das Feuer.

Wenn wir jedoch unser eigenes Verhalten und Denken einer genauen Überprüfung unterziehen, können wir sicher feststellen, dass wir dazu neigen, umgekehrt vorzugehen: aufgrund unserer abstrakten Ideen beobachten wir die Wirklichkeit und verengen und verzerren sie dadurch. Auch die nur materiell naturwissenschaftliche Sicht ergibt eine solche Verengung, da die spirituelle Dimension fehlt.

Aber selbst realitätsnahe Überlegungen und Ideen sind nicht die Wirklichkeit selbst. Die Wirklichkeit ergibt sich durch unmittelbare Erfahrung frei von verzerrenden Vorstellungen und Überlegungen.

Vers 9
Die materielle Dimension der Verbrennung und die abstrakte Dimension des Feuers erkennen wir, indem wir die Flamme genau und direkt beobachten. Wegen der wirklichen Erfahrung der Flamme können wir sinnvoll abstrakt über Feuer reden.

In Bezug auf die Verbrennung können wir uns sogar materiell vorstellen, dass es Zustände ohne Verbrennung gibt. Was will Nagarjuna damit sagen?

Wir sollten uns nicht in Ideen und Überlegungen verlieren und sie als reale Wirklichkeit verstehen. Je konkreter wir beobachten, ohne uns dabei auf die materielle Dimension zu reduzieren, desto näher kommen wir der Wirklichkeit. Dies gilt für das Beispiel der Flamme, und auch allgemein für unser Leben.

Vers 10
Dieser Vers betont den Unterschied der wirklichen Existenz von den Worten und Vorstellungen des Begriffes „Existenz“. Derartige Ideen und Vorstellungen sind aber nicht real und nicht die Wirklichkeit. Sie benennen zwar die Wirklichkeit, sind aber nicht mit ihr identisch.

Nachdem Nagarjuna keinen Zweifel daran gelassen hat, dass es die Wirklichkeit in unserem Leben, in der Welt und im Universum gibt, stellt er nun die Frage, ob es möglich ist, diese Wirklichkeit vollkommen zu erkennen. Die Antwort lautet, dass die Wirklichkeit unfassbar ist. In einer modernen Formulierung heißt dies, dass die Komplexität der Wirklichkeit unendlich ist und daher nicht vollständig erkannt oder beschrieben werden kann.

Vers 10
Nagarjuna betont, dass nur die konkrete Wirklichkeit real ist und existiert. Dies unterscheidet sich häufig von dem, was wir als existent denken und uns vorstellen und mit dem Wort Existenz bezeichnen.

Unser Gehirn erzeugt die verschiedensten Varianten der sogenannten Existenz, die jedoch häufig überhaupt keine Wirklichkeit ist. Eine solche „Existenz“ ist dann nur eine Idee, Vorstellung oder Illusion.

Die Wirklichkeit ist niemals vollständig zu verstehen und hat immer die Qualität des Unfassbaren. Wir können sie im Tun und Handeln erfahren, aber nicht vollständig in Worten ausdrücken.

Vers 11
Was unser Interesse in der Wirklichkeit erweckt hat, wird von uns wahrgenommen und existiert daher so für uns. Allerdings nehmen wir sehr Vieles der Wirklichkeit dieser Welt überhaupt nicht wahr.

Auf der anderen Seite können wir nur das wirklich wahrnehmen, was zur Realität gehört und das nicht wahrnehmen, was gar nicht real ist. Viele unserer Ideen und Vorstellungen sind wie gesagt nicht Teil der Wirklichkeit.

Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Wirklichkeit völlig unabhängig davon ist, ob wir sie mögen oder nicht, ob wir sie lieben oder hassen. Wir sollten uns daher für die wahre Existenz und die einfache Erfahrung öffnen und uns nicht von unseren Bewertungen abhängig machen.

Vers 12
Die materielle Tatsache der Verbrennung bedeutet, dass wir die Tatsache der Flamme erkennen. Auch für die materiellen Aspekte, also der Verbrennung, kann es verschiedene Interpretationen und Bedeutungen geben, die wir dann als mentale Konstruktion einstufen müssen. Sie sind aber von der Wirklichkeit der Flamme verschieden.

Nagarjuna geht dann auf die Frage ein, ob wir indifferent gegenüber den Bedeutungen und der Wirklichkeit der Flamme sein können: er verneint dieses ganz klar, denn Indifferenz und Bedeutungslosigkeit widerspricht der Wirklichkeit unseres Lebens und des Universums. Selbst der materielle Aspekt des Feuers existiert nicht ohne Bedeutung.

Vers 13
Die Wirklichkeit der Flamme hat immer sowohl den Aspekt der Bedeutung als auch des Materiellen. Die konkrete Form der Flamme als ganzheitliche Wirklichkeit ist jedoch mehr als die naturwissenschaftliche Erklärung der Verbrennung. Diese Unterscheidung kann wie das Beispiel des Gehens im zweiten Kapitel verstanden werden. Die Erinnerung gegangen zu sein, die Erwartung in der Zukunft zu gehen und das Denken über das Gehen ist etwas grundsätzlich anderes als die Wirklichkeit des Gehens selbst.

Vers 14
Die Ganzheitlichkeit der Flamme ist nicht dasselbe wie die materiell-naturwissenschaftliche Erklärung und Theorie der Verbrennung. Aber Flamme und Verbrennung gibt es nicht an getrennten Orten, sondern sie gehören unauflösbar zusammen.

Die Flamme ist keine Imitation und kein Abbild der Verbrennung, denn sie ist umfassender. Die Verbrennung ist wiederum eine Theorie und Erklärung und keine Entität mit dinghaftem unabhängigem Charakter.

Die Verbrennung erzeugt daher auch nicht die Flamme, die als Wirklichkeit für sich selbst steht. Die Verbrennung ist eine wissenschaftliche Erklärung und ist etwas anderes als die Wirklichkeit, die sie erklärt oder erklären soll.

Vers 15
Die Wirklichkeit der Flamme bildet eine Einheit mit dem Feuer und der Verbrennung, und damit der Einheit der gedanklichen Überlegung uns Sinneswahrnehmung.

Alle Dinge und Phänomene sind weit mehr als das, was wir sehen und wahrnehmen können. Sie haben eine unendliche Komplexität. Man kann sie daher mit der komplexen Struktur eines Gewebes vergleichen.

In ähnlicher Weise ist das weiße Licht aus komplexen Einzelteilen zusammengesetzt, z.B. im unsichtbaren ultravioletten und infraroten Teil. Der Buddhismus geht über diese naturwissenschaftlich–materiellen Dimensionen hinaus, die schon für sich betrachtet unendliche Komplexität besitzen.

Vers 16
Die konkrete Wirklichkeit und Ideen existieren in den Dingen und Phänomenen, die gleichzeitig jeweils auch einzeln da sind. Aus der Sicht des Buddhismus gibt es die Totalität der umfassenden Existenz in jedem einzelnen Ding und Phänomen.

Häufig kümmern wir uns nicht um die wahre Natur dieser Dinge und Phänomene. Dadurch geraten wir in Schwierigkeiten und haben trotz erheblicher Anstrengungen bestimmte verengte und verzerrte Weltanschauungen. Wir treffen daher falsche Entscheidungen und bringen unser eigenes Leben in große Gefahren. Es ist sogar möglich, dass wir die wahre Bedeutung unseres Lebens zerstören.


Sonntag, 7. Juli 2013

Untersuchung des Augenblicks genau vor der Gegenwart (Purva pariksha) Nagarjuna, MMK, Kapitel 9


Meister Dôgen benutzt in Japanisch im Shôbôgenzô das Wort kisen , bei dem ki Wandel oder gegenwärtiger Augenblick und sen vorher bedeutet. Ich übersetze das Sanskritwort purva im selben Sinne. Es handelt sich also um die Untersuchung des unmittelbaren vorherigen Augenblicks.

Der gegenwärtige Augenblick hat im Buddhismus eine außerordentlich große Bedeutung, da er genau der Zeitpunkt des Handelns ist und von der vorherigen Zeit, also der Vergangenheit, und der zukünftigen Zeit radikal unterschieden ist. Sowohl die Wahrnehmung als auch das intellektuelle Denken haben aber immer eine Zeitverzögerung gegenüber dem wirklichen Augenblick des Geschehens. Wenn wir etwas beobachten oder denken, ist es daher schon vergangen, denn es hat im vorherigen Augenblick stattgefunden.

Vers 1
Die Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. ereignen sich im gegenwärtigen Augenblick, aber ganz genau genommen ist es ein Abbild eines Vorgangs, der kurz vorher stattgefunden hat. Die Realität existiert daher bei der Wahrnehmung um einen kleinen Bruchteil früher als wir meinen.

Diese Aussage Nagarjunas wird durch die heutige biologische Forschung bestätigt.

Vers 2
Im Buddhismus der ganzheitlichen Praxis und Erfahrung gibt es einen Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Menschen als Tun und dem sogenannten Objekt der Wahrnehmung. Wenn die Wahrnehmung daher nicht tätig ist, kann für uns überhaupt nichts existent sein. Die Wahrnehmung hat also eine sehr hohe Bedeutung für die Wirklichkeit, auch wenn sie unvollkommen ist. Aber die Wahrnehmung ist auch nicht die ganze Wirklichkeit, da sie nur die materielle Sicht und die Form erkennt.

Vers 3
Die Sinneswahrnehmung beruht nur auf der Wirklichkeit selbst. Dies können wir auch als „reine“ Sinneswahrnehmung verstehen. Dabei ist sie durchaus unvollständig oder sogar fehlerbehaftet.

Eine solche reine Sinneswahrnehmung ereignet sich, bevor wir sie ordnen, einordnen oder bewerten. Denn dies sind mentale und psychische Vorgänge, die später nachfolgen.

Das Gesehene oder Gehörte usw. wird von uns in einen geordneten Zusammenhang gebracht und so mental verarbeitet. Es geht nicht zuletzt um psychische Einflüsse, dass wir z. B. in einer etwas unklaren Situation das sehen, was wir unbedingt sehen wollen, oder das nicht sehen, was wir unbedingt nicht sehen wollen.

Vers 4
Die Dinge und Phänomene des Universums existieren in einer stabilen Gesamtsituation und zwar auch dann, wenn unsere Sinneswahrnehmungen nicht tätig sind. Beim Universum handelt es sich um ein dynamisches Gleichgewicht, z. B. wenn die Planeten einschließlich der Erde um die Sonne kreisen, und das Sonnensystem wiederum Teil eines größeren sich bewegenden Spiralnebels ist.

Nagarjuna betont ein solches Gleichgewicht als wesentliche Basis der Wirklichkeit. In unserem Leben können wir daher mit Zuversicht in die Zukunft schauen, da wir davon ausgehen können, dass die Dinge und Phänomene unserer Umgebung eine gewisse Verlässlichkeit haben. Die von Menschen erzeugten Katastrophen wie Kriege und Unterdrückung oder auch Naturkatastrophen sind demgegenüber eher zeitliche Ausnahmen, die allerdings meist eine übergroße Bedeutung in unserem Bewusstsein und unserer Psyche haben.

Im Buddhismus wird der Ozean oft als Gleichnis für diese Aussagen der Ruhe und Ausgeglichenheit verwendet: selbst wenn die Oberfläche vom Sturm aufgewühlt ist, hat der Ozean insgesamt in seiner Tiefe und seiner Breite eine ruhige Stabilität, die für unser Leben beispielhaft sein kann.

Vers 5
Das Gesetz von Ursache und Wirkung erzeugt Prozesse und Bewegungen; dabei halten bestimmte Dinge die anderen Dinge in Gang.

Diese aufeinander bezogenen und wechselseitig angestoßenen Bewegungen laufen auch ab, wenn wir sie nicht beobachten und nicht sehen können. Vieles können wir nicht direkt mit unseren Augen sehen und selbst mit modernen Instrumenten kann alles, was es im Universum gibt, nur näherungsweise beobachtet werden.

Vers 6
Der vorherige Augenblick kann niemals wirklich erkannt oder ergriffen werden. Er ist unabänderlich vorbei und ist Vergangenheit. Daher hat er nicht die Qualität der Wirklichkeit.

Dies gilt selbstverständlich auch für die Wahrnehmung wie Sehen oder Hören. Irgendeine Situation in der Vergangenheit, und sei es in dem gerade vorangegangenen Augenblick, können wir nicht sehen, sondern haben lediglich ein Bild im Bewusstsein; das ist eine Kopie des früher Wahrgenommenen.

Gefühlsmäßig haben wir die Tendenz anzunehmen, dass das Frühere und das Zukünftige fast wie die Wirklichkeit irgendwo existiert. Aber das ist ein Irrtum und entspricht nicht der Realität.

Vers 7
Der Augenblick, den es genau vor der Gegenwart gab, kann nur intuitiv erkannt und wahrgenommen werden. Der zeitliche Abstand von der Gegenwart ist dabei so klein, dass die Wahrnehmung dabei zu langsam ist.

Die Intuition beruht  auf einer Wirkung, die von der vorherigen Ursache abgegrenzt ist. Aber nach buddhistischer Lehre gibt es trotzdem die Dinge und Phänomene als Wirklichkeit im Augenblick. Sie sind nicht nur  Bilder und Vorstellungen in unserem Gehirn.

Vers 8
Sehen, Hören und die anderen Sinneswahrnehmungen sind wirklich und Teil des Handelns. Demgegenüber ist der vorherige Augenblick bereits von den Tatsachen der Wirklichkeit abgelöst, und diese Tatsachen der Gegenwart haben auf die Vergangenheit keinen Einfluss mehr.

Der vorherige Augenblick hat als eigenständige Wirklichkeit das Universum bereits verlassen, allerdings setzen sich die Wirkungen weiter fort und zwar für immer.

Vers 9
Jede Veränderung und jeder Wandel kommt im menschlichen Geist durch Vergleiche der Vergangenheit mit der Gegenwart zustande. Im Augenblick selbst gibt es keinen Wandel weil die Zeitstrecke viel zu kurz ist.

Veränderungen sind nicht zuletzt ein gesellschaftlicher Konsens, der oft nicht hinterfragt wird, sie werden wie eine Tatsache gedacht und kommuniziert.

Nicht zuletzt naive Änderungstheorien über die Welt und die Gesellschaft haben schon immer Konjunktur gehabt und sind beliebt bei den Menschen. Dabei sind die von Göttern hervorgerufenen nicht immer positiven Veränderungen in vielen Religionen besonders wichtig, obgleich sie keine Wirklichkeit sein mögen.

Vers 10
Die wirklichen Wahrnehmungen wie Sehen, Hören usw. existieren genau im gegenwärtigen Augenblick.

Die konkreten Dinge und Phänomene existieren dabei in den Sinneswahrnehmungen, aber deren Realität gibt es niemals in der Vergangenheit.

Nach der buddhistischen Lehre und Praxis gibt es im wahren existentiellen Sein des Menschen keine Trennung von Subjekt und Objekt also von einem Ding, das wir sehen, unserer Wahrnehmung und dem Bewusstsein oder dem Bild in unserem Geist. Die Vergangenheit gibt es nur in unserem Geist.

Vers 11
Die Wahrnehmung durch die Sinne existiert nur im gegenwärtigen Augenblick und in der realen Welt. Wenn wir diese Realität nicht erkennen können, ist es völlig ausgeschlossen, die wirklichen Dinge und Phänomene dieser Welt zu erkennen und in die Wirklichkeit unsere Lebens einzubeziehen.

Vers 12
Der vorherige Augenblick schafft eine stabile Ausgangssituation, die auf den gegenwärtigen Augenblick einwirkt. Die Wirklichkeit des Augenblicks können wir dann mit unseren Sinnesfunktionen wahrnehmen.

Obwohl der vorherige Augenblick in Bezug auf die Wirklichkeit durchaus gewisse Unklarheiten besitzt, können wir trotzdem auf die Wirklichkeit vertrauen, die im gegenwärtigen Augenblick bereits da ist.


Wir können daher tatsächlich auf den vorherigen Augenblick vertrauen, obgleich wir mit dem Verstand niemals vollständig klären können, was der vorherige Augenblick gewesen ist.